Kein Zinserlass bei unklarer Erbfolge

Grundsätzliches
§ 233a AO regelt die begrenzte Vollverzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen. Mit der Verzinsung vor Fälligkeit der Steuer wird ein Ausgleich dafür geschaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zwar jeweils spätestens zum Jahresende entstehen, aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden.
Insoweit beruht die Vorschrift auf der zulässig typisierenden Annahme, dass derjenige, dessen Steuer ganz oder zum Teil zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt wird, gegenüber demjenigen, dessen Steuer bereits frühzeitig festgesetzt wird, einen Liquiditäts- und damit auch einen potentiellen Zinsvorteil hat. Dieser Vorteil ist umso größer, je höher der nachzuzahlende Betrag ist und je später die Steuer festgesetzt wird. Durch die Sollverzinsung sollen der Liquiditätsvorteil des Steuerpflichtigen und seine damit verbundene erhöhte steuerliche Leistungsfähigkeit abgeschöpft werden. Ob die möglichen Zinsvorteile tatsächlich bestanden, ist grundsätzlich unbeachtlich.
Der Zinslauf beginnt nach dem Entstehungszeitpunkt der Steuer zuzüglich einer bestimmten Karenzzeit (§ 233a Abs. 2 AO). Eine Besonderheit gilt im Falle des Vorliegens eines rückwirkenden Ereignisses. Dann beginnt die Karenzzeit eine gewisse Zeit nach dem rückwirkenden Ereignis (§ 233a Abs. 2a AO).
Vom BFH zu klärende Fragen
Der BFH hatte sich mit den Fragen auseinanderzusetzen, ob
- eine Vollverzinsung selbst dann nach Ablauf der Karenzzeit für das jeweilige Veranlagungsjahr ausgelöst wird, wenn wegen zunächst unklarer Erbrechtssituation keine Zurechnung von Einkünften beim Erben möglich war und
- ob in dieser Fallkonstellation ein Zinserlass (§ 227 AO) in Frage kommt.
Sachverhalt: Zinsfestsetzung nach langjährigem Erbstreit
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt verhielt sich folgendermaßen:
- Der Kläger ist Erbe zu 1/2 nach dem am 6.10.2012 verstorbenen Erblasser (E).
- E hinterließ verschiedene Testamente.
- Nach seinem Tod kam es zu langjährigen Streitigkeiten um die Erbfolge und insbesondere um die Frage, ob E bei Abfassung der jeweiligen letztwilligen Verfügung testierfähig gewesen war.
- Am 28.8.2018 wurde schließlich ein Erbschein erteilt, der den Kläger - neben zwei weiteren Erben ‑ als Erbe zu 1/2 auswies.
- In den an die Erbengemeinschaft gerichteten Feststellungsbescheiden für die Jahre 2012 bis 2017 vom 9.8.2019 wurden dem Kläger Einkünfte aus Gewerbebetrieb, aus Vermietung und Verpachtung sowie Kapitaleinkünfte zugerechnet.
- Das Finanzamt erließ am 28.10.2019 gegenüber dem Kläger geänderte Einkommensteuerbescheide, in denen für die Veranlagungsjahre 2012 bis 2017 auch Zinsen nach § 233a AO von insgesamt rd. 33.700 EUR festgesetzt wurden.
- Der Kläger beantragte den Erlass der gesamten Nachzahlungs- sowie Erstattungszinsen der Jahre 2012 bis 2017 aus sachlichen Billigkeitsgründen. Zur Begründung führte er an, bis in das Jahr 2019 sei nicht klar gewesen, wer an der Erbengemeinschaft beteiligt sei und wem welche Einkünfte zuzurechnen seien. Ihn treffe an der Verzögerung keine Schuld.
Das FA lehnte einen Erlass ab.
FG Düsseldorf lehnte Billigkeitserlass ab
Das FG Düsseldorf lehnte mit Urteil v. 19.5.2021 (4 K 2381/20 AO, EFG 2021, 1349) den beantragten Billigkeitserlass ab.
BFH: Billigkeitserlass wurde ebenso abgelehnt
Auch der BFH hielt die Revision für unbegründet (Urteil v. 9.4.2025, X R 12/21). Das FG Düsseldorf habe zutreffend entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf Erlass der in Rede stehenden Nachzahlungszinsen habe. Die Ablehnung des Erlassantrags durch das Finanzamt wurde aus folgenden wesentlichen Gründen als nicht ermessensfehlerhaft angesehen:
- Der BFH betont zunächst, dass auch ein Grundlagenbescheid, der viele Jahre nach Ende des Veranlagungszeitraums erlassen oder geändert wird, zu einer Zinspflicht unter Berücksichtigung der Karenzzeit führt. Es liegt kein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 233a Abs. 2a AO vor.
- Ein Zinserlass kommt nach § 227 AO bei Vorliegen einer sachlichen Unbilligkeit in Frage. Eine sachliche Unbilligkeit liegt jedoch im Entscheidungsfall nicht vor.
- Allein der Umstand, dass der Steuerpflichtige aufgrund der unklaren Erbrechtssituation nicht in der Lage war, die Besteuerungsgrundlagen früher zu ermitteln beziehungsweise zu schätzen und eine Vorauszahlung auf die zu erwartenden Steuern zu leisten, um eine Zinsentstehung zu verhindern oder jedenfalls zu reduzieren, begründet keine sachliche Unbilligkeit.
- Die Freistellung von der Zahlung der Steuer rechtfertigt im Hinblick auf den hierdurch typisierend anzunehmenden Liquiditäts- und Zinsvorteil hinsichtlich der Steuerschuld die Festsetzung von Nachzahlungszinsen. Auf die fehlende Nutzungsmöglichkeit der Nachlassgegenstände durch den Steuerpflichtigen während des Erbscheinverfahrens kommt es nicht an.
Praxisfolgen
Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis können erlassen werden, wenn deren Einziehung nach Lage des Einzelfalls unbillig ist (§ 227 AO). Zu den Ansprüchen aus einem Steuerschuldverhältnis zählen auch die steuerlichen Nebenleistungen wie z. B. Zinsen nach § 233a AO (§ 3 Abs. 4 AO).
Ein Erlass von Zinsen kommt auch bei Nachzahlungszinsen in Frage, wenngleich dies – anders als z. B. bei Stundungs- oder Aussetzungszinsen (§§ 234 Abs. 2 und § 237 Abs. 4 AO) – nicht ausdrücklich und generell in § 233a AO geregelt ist.
Eine Unbilligkeit hat der BFH jedoch verneint, weil durch die spätere Festsetzung der Einkommensteuer die Möglichkeit der Kapitalnutzung bestand und damit ein zumindest theoretischer Liquiditätsvorteil vorlag.
Der ausgewertete Feststellungsbescheid löst kein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO aus, für den sich ein eigener Zinslauf ergibt. Der Einkommensteuerbescheid ist vielmehr wegen eines Grundlagenbescheides zu ändern (§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO); hierfür existiert kein spezieller Zinsbeginn.
Ob die spätere Erbscheinerteilung ein rückwirkendes Ereignis auslöst, scheint zumindest der X. Senat des BFH zu verneinen (Rz. 61). Er konnte diese Frage aber offen lassen, weil dies bei der materiell-rechtlichen Prüfung zu entscheiden gewesen wäre. Eine abschließende höchstrichterliche Klärung dürfte aber geboten sein, weil der IX. Senat des BFH mit Urt. v. 29.5.2008 (IX R 46/06) eine zivilrechtliche Entscheidung im Erbscheinerteilungsverfahren mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Erbfalls als rückwirkendes Ereignis nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO qualifiziert hat. Zumindest in der Abwehrberatung sollte die Anwendung dieser Rechtsprechung bei Zinsfestsetzung beantragt werden.
BFH, Urteil v. 9.4.2025, X R 12/21; veröffentlicht am 26.6.2025
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