Interview mit Dr. Norbert Taubken

Die EU verändert nachträglich die Spielregeln, das sorgt für Unsicherheit und Frust bei Unternehmen, unabhängig davon, ob sie künftig einer Berichtspflicht unterliegen oder nicht. Wie aber berät man Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit, wenn der regulatorische Rollback droht? Ein paar Antworten hat Dr. Norbert Taubken, Partner und Geschäftsführer von Scholz & Friends Reputation.

Herr Dr. Taubken, viele Unternehmen haben sich in den letzten Jahren vor allem wegen regulatorischer Vorgaben mit Nachhaltigkeit beschäftigt. Wie beurteilen Sie die geplanten Veränderungen?

Dr. Norbert Taubken: Viele Mittelständler mussten sich durch die CSRD mit Anforderungen befassen, mit denen sie zuvor nie zu tun hatten. Vor allem für jene mit weniger als 1.000 Mitarbeitenden war das eine Riesenaufgabe, die für diese Unternehmen kaum zu meistern ist, wenn man sie ernsthaft angehen will. Insofern finde ich es richtig, dass aktuell Anpassungen hinsichtlich der Größe der betroffenen Unternehmen als auch eine Reduzierung der Datenpunkte vorgenommen werden. Allerdings entsteht durch diese nachträglichen Änderungen erneut Chaos. Es wäre deutlich besser gewesen, das Thema von vornherein anders anzugehen und nicht alle gesellschaftlichen Detail-Erwartungen an Unternehmen in eine solche Reportingpflicht hineinbringen zu wollen. Dass man das zum jetzigen Zeitpunkt wieder anpassen wird, erzeugt Erleichterung bei den einen, irritiert und ärgert wiederum andere, die sich bereits in die Kernarbeit gestürzt haben.

Was wäre in der momentanen Situation ein kluger Weg für die gesetzgebenden Protagonisten?

Mein dringlicher Wunsch ist es rasch eine Klärung herbeizuführen, um den betroffenen Unternehmen Handlungssicherheit zu geben – und zwar auf allen Ebenen. Die deutsche Umsetzungsgesetzgebung zur angepassten CSRD soll bis Ende des Jahres erfolgen. Ich sage: Je früher, desto besser!

Gemischte Gefühle: Der Omnibus kommt, was jetzt?

Sie beraten seit 20 Jahren zu Fragen der Nachhaltigkeit, etwa 50 Unternehmen in den letzten drei Jahren. Was erleben Sie gerade draußen auf dem Markt?

Wir haben natürlich nur eine eingeschränkte Sicht auf den Markt von 50.000 potenziell Betroffenen. Aber wir beobachten im Wesentlichen drei unterschiedliche Reaktionen auf die angekündigten Lockerungen der Regeln: Die erste Gruppe freut sich über die angekündigten Änderungen. Diese Unternehmen stellen derzeit erst einmal alle Aktivitäten ein, sofern es bereits welche gegeben hat. Diesen Weg nehmen viele Unternehmen mit 250 und 1.000 Mitarbeitenden, die perspektivisch aus der Reporting-Verpflichtung herausfallen könnten. Das ist aus meiner Sicht kurzfristig verständlich, aber aufgrund der Unsicherheiten noch mit Risiken behaftet. Man sollte die regulatorische Entwicklung zumindest genau beobachten und auch die Nachhaltigkeitserwartungen anderer Stakeholder – insbesondere von Banken, Investoren, Geschäftspartnern – in den Blick nehmen. Für diejenigen über 1.000 Mitarbeitenden ist dieser Weg nicht zu empfehlen und strategisch unklug. Mir wurde zugetragen, dass vereinzelt sogar neu aufgebaute Nachhaltigkeitsabteilungen wieder geschlossen worden sind. Damit verlieren diese Unternehmen wertvolle Zeit, um sich auf die anstehende Regulierung vorzubereiten.

Was ist mit den beiden anderen Gruppen?

Die zweite Gruppe hat eine andere Ausgangslage und geht entsprechend entspannt mit der Situation um. Hier hat man bereits umfassend in Strategien, Inhalte und Strukturen investiert und geht jetzt konsequent so weiter. Oft stehen Nachhaltigkeitsvorreiter dahinter oder EU-ausländische Konzernmütter, für die ein Umsetzungsgesetz bereits in Kraft ist. Diese meist großen Unternehmen lassen die intensiven Vorarbeiten nun in Ruhe in ihre Reporting-Strukturen laufen und werden bei Anpassungen perspektivisch nachjustieren. Die dritte Gruppe sind nach unserer Einschätzung insbesondere diejenigen, die 2024 erste Schritte gegangen sind und erste Aufgaben wie eine Wesentlichkeitsanalyse gemeistert haben. Diese Unternehmen sehen die angekündigten zwei Jahre Verzug als zusätzliche Zeit, sie gehen den Weg in Richtung Reporting weiter, entzerren aber nun ihre Arbeit. Es bleibt mehr Luft für die strukturierte Suche nach dem für sie besten ESG-Softwareanbieter oder für anstehende Maßnahmen und Projekte. Zugleich nutzen sie freiwerdende Ressourcen, um ihre strategischen Interessen an Nachhaltigkeit zu schärfen. Damit verhalten sich die Unternehmen taktisch klug: Sie fahren das Energielevel herunter und entlasten ihre Strukturen. Zugleich entwickeln sie jetzt Unternehmensziele für nachhaltiges Wirtschaften, die einen echten Mehrwert bringen, und entwickeln dafür die später zu berichtenden Managementansätze.

Was antworten Sie auf die Frage, ob man zum jetzigen Zeitpunkt einen Bericht machen sollte?

Tatsächlich kommt diese Frage oft und wir empfehlen dann, das Reporting zu erproben. Dabei können sich kleinere Unternehmen an der VSME-Logik orientieren. Dieser für KMU entwickelte Standard für eine freiwillige Berichterstattung hat den Vorteil, dass bestimmte Grundstrukturen vergleichbar mit der ESRS-Logik, die Anforderungen aber deutlich geringer sind. Ideal ist eine Zwischenlösung für die Berichterstattung zwischen VSME und ESRS, indem sie zum Beispiel ihre Wesentlichkeitsanalyse mit in das Reporting einbinden. Sie können mit denjenigen Datenpunkten beginnen, die schon verfügbar sind, aber auch Themen weglassen, die sie nicht betreffen, ohne dies weiter thematisieren oder ausführen zu müssen. Insgesamt halten wir das für ein sehr pragmatisches und zielorientiertes Vorgehen.

... das entbindet aber nicht von der Pflicht, sich auf dem Laufenden zu halten, oder?

Nein, natürlich nicht. In drei Monaten werden wir ein Stück weiter sein. Spätestens dann sollten Unternehmen wieder prüfen, ob wir auf dem aktuell sich abzeichnenden Weg zum Standard geblieben sind und notfalls nachjustieren. Bis die Umsetzungsgesetzgebung steht, lässt sich ein Restrisiko nicht vermeiden.

Neuer Raum für Innovation und Resilienz

Wie argumentieren Sie gegenüber Unternehmen, die sagen: ‚Wenn wir nicht mehr berichten müssen, machen wir auch nichts mehr'?

Sich der Grundfrage von nachhaltigem Wirtschaften zu stellen, ist auch für diejenigen notwendig, die nicht oder nicht mehr unter die Berichtspflicht fallen. Mit Blick auf das eigene Geschäftsmodell und Branchenthemen, auf langfristige Trends und Stakeholder-Erwartungen muss sich jedes Unternehmen entscheiden, wie sehr die eigene Organisation Nachhaltigkeit als strategisches Thema nutzen will. Eine reine Berichtspflicht bringt für diese Weichenstellung nur indirekt etwas. Sie wurde als Instrument für die Finanzmärkte eingeführt, um mehr Transparenz und Vergleichbarkeit der Unternehmen zu erreichen. Das Handeln ist in den letzten Jahren in vielen Unternehmen deutlich zu kurz gekommen, da die interne Ressourcenpipeline durch die neuen Reporting-Anforderungen verstopft wurde. Mit der neuen Situation bekommen Fragen wie Innovationsfähigkeit oder resiliente Lieferketten als zentrale Garanten für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens neuen Raum. Allerdings liegt ihre Beantwortung nicht nur beim Sustainability Management, sondern primär beim Executive Board und Aufsichtsrat.

Halten Sie das für realistisch? Oder anders gefragt, sehen Unternehmen diese Notwendigkeit ohne gesetzlichen Druck?

Ich sehe die Situation gar nicht so schwarz, denn gerade in Deutschland gibt es viele Aktivitäten bei den nicht-börsennotierten Unternehmen, die auf Nachhaltigkeit zielen. Vor allem die größeren Familienunternehmen treiben diese Themen schon sehr lange voran. Was häufig noch fehlt, sind eine Gesamtschau und mittelfristige Zielsetzungen. Die Hauptaufgabe besteht oft erst einmal gar nicht darin, viele Neuerungen umzusetzen, sondern aus den Puzzleteilen des Bestehenden ein Gesamtbild aufzubauen und dieses punktuell immer weiterzuentwickeln. 

Sehen Sie hier bestimmte Branchen oder Unternehmensarten im Vorteil?

Natürlich spielt die Unternehmensgröße eine Rolle, aber es gibt auch andere Faktoren. Die Historie der unternehmerischen Nachhaltigkeit geht bis mindestens in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück. Gerade ressourcen- und energieintensive Branchen wie die Stahl- oder Automobilproduktion mussten sich schon sehr früh mit Nachhaltigkeitsthemen auseinandersetzen. Eine weitere Gruppe bilden die stark regulierten Branchen, wie Telekommunikation. Auch bei den Markenartiklern gibt es eine längere Geschichte mit produktbezogener Nachhaltigkeit. Dies betrifft beispielsweise Hersteller von Babynahrung oder die Textilindustrie, die auf Skandale in ihren Lieferketten mit Selbstverpflichtungen reagierte. Grundsätzlich kann man sagen, dass sich die Beschäftigung mit Nachhaltigkeit immer dort einstellt, wo es einen Treiber gibt. Dieser kann die Wertehaltung einer Inhaberfamilie sein, ein Lieferantenbewertungstool wie EcoVadis oder auch Notwendigkeiten aus dem Employer Branding heraus.

Ist es denn im aktuellen Rollback überhaupt noch ein Pluspunkt, wenn Arbeitgebende eine nachhaltige Unternehmenskultur ins Schaufenster hängen? 

Auf Teilen der internationalen Bühne wird gerade zum Beispiel das Thema ‚Diversity', das ja auch Teil der CSRD ist, regelrecht diffamiert. Wir haben auch Kunden mit Niederlassungen in den USA und sehen, dass Konzerne vor dieser Situation überlegen, wie sie die betreffenden Abteilungen in ihrem Haus umbenennen können, um nicht offensichtlich auf Konfrontationskurs zu gehen. Es gibt auch Unternehmen, die diese Units öffentlichkeitswirksam geschlossen haben. Derartige opportunistische Signale können aber mit einem extremen Imageverlust einhergehen, wie wir das am deutlichsten am Beispiel von Tesla erleben. 

Europäische Unternehmen und das US-Geschäft

Wie beurteilen Sie das Verhalten, das sich in den USA bei vielen großen Playern beobachten lässt?

Es ist im Moment ein schwieriger Spagat für unsere Kunden mit US-Geschäft: Sie wissen, folgen sie nicht der geforderten Linie, so fallen sie aus allen öffentlichen Aufträgen raus und werden gegebenenfalls an der Börse schlechter bewertet. Auf der anderen Seite sollen sie ihrer Überzeugung folgen und Haltung zeigen. Aus diesem Dilemma gibt es nicht den einen goldenen Weg. Wir sollten Verständnis haben, wenn es kurzfristig zu Kompromissen kommt, die auch wirtschaftliche Auswirkungen berücksichtigen. 

Haben Sie einen Tipp für Unternehmen und Sustainability-Verantwortliche in der derzeitigen Situation?

Ich erwarte von jedem Unternehmen, dass es sich mit seiner eigenen Zukunftsfähigkeit befasst, unabhängig von seiner Größe und etwaigen Berichtspflichten. Die momentane Interimsphase ist eine Chance: für ein Überprüfen der eigenen Aktivitäten, einen neuen Fokus auf die Strategie und deutliche Schritte hinein ins Handeln. Reine Berichte führen zu gar nichts, und auch Strategien, die nicht mit Handlungsplänen unterlegt werden, laufen leer. Ich rate also jedem, die Chance zu ergreifen und die Zeit zu nutzen. Es geht darum, dass Unternehmen eine Investition in die eigene Zukunftsfähigkeit tätigen.

Dr. Norbert Taubken leitet seit 2007 die Nachhaltigkeitsberatung Scholz & Friends Reputation. Seit 2020 ist er zudem Partner der Scholz & Friends Group. Zu seinem Kundenportfolio zählen unter anderem die Aldi Süd Gruppe, Audi, Boehringer Ingelheim, BVG, Hamburg Port Authority, Heraeus Holding, Otto Group, Peter Kölln, RB Leipzig, Telefónica Deutschland, TÜV Nord, VfL Wolfsburg, Vilsa Group, Volkswagen Group, Vonovia sowie Rat für nachhaltige Entwicklung und Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Der Naturwissenschaftler und Pädagoge baute von 2000 bis 2003 für AOL Deutschland den CSR-Bereich auf. Er lehrte und lehrt zudem an der European School of Management and Technology, der Hamburger School of Business Administration und der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde.



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