Gesundheitsrisiken durch algorithmisches Management

Die Steuerung datenbasierter Entscheidungen durch Algorithmen bringt enorme Effizienz in die Arbeitsorga­ni­sation. Doch algorithmisches Management birgt Risiken für die Gesund­heit der Beschäftigten. Was HR tun kann, um negative Folgen zu minimieren. 

Algorithmisches Management (kurz: AM) – klingt ein wenig nach Science-Fiction und ist doch ganz einfach die Nutzung von Software (oft mit KI), um Managementaufgaben ganz oder teilweise zu automatisieren. Konkret umfasst das unter anderem automatisierte Schicht- und Aufgabenplanung, Echtzeit-Überwachung der Arbeitsleistung oder die dynamische Anpassung von Arbeitszielen und Leistungsbewertungen. Während diese Systeme betriebliche Prozesse effizienter machen, kann ihre Implementierung allerdings zu erheblichen psychischen Belastungen bei Beschäftigten führen. 

Wie algorithmisches Managementauf die Psyche wirkt 

HR-Professionals stehen in der Verantwortung, zwischen organisationalem Nutzen und Schutz der Belegschaft auch beim Einsatz von AM zu vermitteln. Spätestens seit der Verankerung der Pflicht zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen im Arbeitsschutzgesetz dürfte dieses Argument in HR-Abteilungen Gehör finden. Was dabei auf dem Spiel stehen kann, zeigen die folgenden Beispiele.

Kontrollverlust und Autonomieverlust: Algorithmische Systeme entscheiden oft selbstständig über Arbeitseinsätze, Leistungserwartungen und Vergütung. Mitarbeitende haben häufig keine Möglichkeit, diese Entscheidungen nachzuvollziehen oder zu beeinflussen. Dies kann zu einem Gefühl der Machtlosigkeit und des Kontrollverlustes führen – zentrale Faktoren, die Stress und letztlich Burnout begünstigen.

Überwachung und Leistungsdruck: Viele Systeme setzen auf kontinuierliches Monitoring der Belegschaft. Dies geschieht beispielsweise durch GPS-Tracking bei Lieferdiensten oder durch die Erfassung von Tastaturanschlägen bei Beschäftigten in Bürojobs. Eine solche permanente Überwachung kann zu einer "Big Brother"-Atmosphäre führen und den psychischen Druck auf Mitarbeitende erhöhen.

Unklare Bewertungskriterien und Intransparenz: Ein wesentliches Problem algorithmischer Entscheidungen ist deren fehlende Nachvollziehbarkeit. Wenn Mitarbeitende nicht verstehen, warum sie schlechter bewertet oder mit weniger (attraktiven) Aufträgen bedacht werden (KI als "black box"), erzeugt dies Unsicherheit und Frustration. Die fehlende Möglichkeit, mit einer Führungskraft zu kommunizieren oder gegen Entscheidungen Einspruch einzulegen, verstärkt das Gefühl der Willkür.

Dauerhafte Erreichbarkeit und Work-Life-Balance: Algorithmisches Management optimiert die Arbeitsprozesse meist in Richtung maximaler Verfügbarkeit der Mitarbeitenden. Entsprechend sind die hier involvierten Beschäftigten rund um die Uhr "auf Abruf" und können sich nicht mehr ausreichend erholen. Schlafstörungen, chronischer Stress und langfristig auch Depressionen können die Folge sein.

Jobunsicherheit und fehlende soziale Unterstützung: Besonders in der Gig-Economy sind algorithmische Systeme für die Zuteilung von Aufträgen und damit für die Einkommenssicherheit verantwortlich. Die Unsicherheit, wann und ob man Arbeit erhält, kann Angstzustände und existenzielle Sorgen verstärken. Zudem fehlen durch die Automatisierung oft persönliche Kontakte auf allen Hierarchieebenen, was die soziale Isolation der Mitarbeitenden verstärken kann.

Algorithmisches Management in der Forschung

Jenseits der dargestellten Beispiele zur ersten Sensibilisierung empfiehlt sich ein Blick in die Forschung. Gerade in den letzten Jahren sind einige Beiträge publiziert worden, die der HR-Praxis Rückendeckung bei der internen Sensibilisierung für das Thema bieten können. Eine Auswahl von drei Impulsen aus der Forschung, ohne Anspruch auf Generalisierbarkeit und Vollständigkeit.  

Impuls aus der Forschung I: Verbreitung von AM  
Ein aktueller und zugleich direkt auf die organisationale Praxis ausgerichteter Beitrag ist der OECD-Bericht "Algorithmic Management in the Workplace" mit einer Datenbasis aus über 6.000 Unternehmen in sechs Ländern (Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, Spanien und USA) vom Februar 2025. Der Bericht liefert eine sehr zeitgemäße und breit gefächerte Wasserstandsmeldung für das Management und HR-Professionals. So zeigt sich hinsichtlich Verbreitung und Intensität: AM ist besonders in den USA (90 Prozent der Unternehmen) und Europa (79 Prozent) verbreitet, jedoch weniger in Japan (40 Prozent). Europäische Unternehmen nutzen hierbei eher weniger invasive Tools, sind also vorsichtiger in ihren Eingriffen. Hinsichtlich der Art von Werkzeugen lassen sich drei große Klassen identifizieren: Instruktionstools (zum Beispiel Arbeitsaufgaben zuweisen), Überwachungstools (zum Beispiel Arbeitszeit oder Produktivität überwachen) und Bewertungstools (zum Beispiel Leistungsbeurteilung, Belohnung oder Sanktionen).

Führungskräfte sehen Vorteile wie bessere Entscheidungsqualität (60 Prozent der Befragten), erhöhte Effizienz und die Reduktion von Routineaufgaben. Allerdings: Fast zwei Drittel der Befragten haben mindestens eine Sorge bezüglich AM, darunter unklare Verantwortlichkeiten, mangelnde Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen und unzureichender Schutz der Beschäftigten. Auf Unternehmensseite wird hier offenbar auf derartige Sorgen reagiert, denn 89 Prozent der Führungskräfte geben an, dass ihr Unternehmen mindestens eine Maßnahme zur Kontrolle algorithmischer Managementsysteme hat (zum Beispiel Richtlinien, regelmäßige Audits oder die Einbindung von Beschäftigten). Insbesondere in Deutschland dürften die im Bericht dargestellten Hürden für die Einführung von AM am höchsten sein: Bedenken hinsichtlich Arbeitnehmerschutz, Widerstand der Belegschaft und hohe Kosten (zumindest initial).

Impuls aus der Forschung II: Folgen für die Gesundheit 
Während der erste Impuls ein Gefühl für die Verbreitung von AM vermittelt, sollen nun speziell die gesundheitlichen Implikationen in den Blick genommen werden. In einem 2023 erschienenen Überblicksartikel mit dem Titel "Workers’ Health under Algorithmic Management: Emerging Findings and Urgent Research Questions" werden die gesundheitsbezogenen Dimensionen der Arbeitsqualität dargestellt, die durch algorithmisches Management auch jenseits der dort fokussierten Branche beeinflusst werden. Die folgenden acht Dimensionen sollten Organisationen auf dem Radar haben, wenn der Einsatz von AM geplant oder bereits in vollem Gange ist:

Arbeitsbelastung: Die eingesetzten Algorithmen steuern das Arbeitstempo und die Anzahl der Aufgaben, was zu erhöhtem Stress und gesundheitlichen Risiken führt.

Wichtigkeit der Tätigkeit: Algorithmen bestimmen die Arbeitsweise, insbesondere durch (Teil-) Automation, und können so die Bedeutung der Tätigkeit für die Beschäftigten verringern.

Zeitplan-Stabilität: Unvorhersehbare und flexible Arbeitszeiten, die von Algorithmen gesteuert werden, können Stress und soziale Belastungen verstärken.

Sozioemotionale Belohnung: Die Bewertungssysteme der Plattformen können emotionale Erschöpfung fördern, da Beschäftigte ständig um gute Bewertungen kämpfen müssen.

Zwischenmenschliche Beziehungen: Die digitale Kontrolle durch Algorithmen ersetzt menschliche Vorgesetzte, was zu fehlender Unterstützung und letztlich sozialer Isolation führt.

Entscheidungsfreiheit: Beschäftigte haben oft nur begrenzte Kontrolle über ihre Arbeit, da Algorithmen automatisch Aufgaben zuweisen sowie Vorgaben zur Aufgabenbearbeitung machen.

Organisatorisches Vertrauen: Die intransparente und einseitige Kontrolle durch Algorithmen verringert das Vertrauen in die Organisation.

Einkommenssicherheit (vor allem bei Gig Work relevant): Unklare Vergütungssysteme und schwankende Bezahlung machen es schwer, finanzielle Stabilität zu erreichen.

Impuls aus der Forschung III: Bedeutung eines Autonomieverlustes
Ein weiterer, ebenfalls in 2023 publizierter Beitrag nutzt einen beeindruckenden Datensatz aus europäischen Unternehmen. Dass die Daten selbst aus 2019 stammen, soll hier nicht stören, zeigt jedoch, wie langwierig der Forschungsprozess mitunter sein kann. Die Datenbasis des Artikels "Influence of Algorithmic Management Practices on Workplace Well-being – Evidence from European Organisations": 21.869 HR-Professionals und 3.073 Arbeitnehmervertretungen aus der EU und UK. Bezogen auf die psychische Gesundheit von Beschäftigten zeigen sich folgende Befunde: AM verschlechtert das Wohlbefinden der Mitarbeiter – der direkte Einfluss von algorithmischem Management auf Wohlbefinden ist zwar lediglich moderat, aber negativ. 

Nun steht KI grundsätzlich nicht unbedingt für menschliche Autonomie und gleichzeitig wissen wir: Mehr Autonomie in der Arbeit verbessert das Wohlbefinden. Diesbezüglich zeigt sich: Wenn Mitarbeitende selbst über ihre Arbeitszeiten und Aufgaben entscheiden können, fühlen sie sich weniger gestresst und sind motivierter. AM wiederum reduziert diese Autonomie, da Entscheidungsprozesse von Maschinen teilweise oder vollständig übernommen werden – im Ergebnis leidet das Wohlbefinden.

Zusätzlich sollten auch die Anreizstrukturen und deren Auswirkungen betrachtet werden. Eine faire und attraktive Vergütung trägt zur psychischen Gesundheit bei. AM führt allerdings oft zu einer Standardisierung der Vergütung, wodurch individuelle Anreize und Belohnungen verloren gehen und im Ergebnis das Wohlbefinden leidet. Hinzu kommt: Besonders in flexiblen Arbeitsumgebungen kann algorithmische Kontrolle zu finanzieller Unsicherheit führen, was sich wiederum negativ auf das Wohlbefinden auswirkt.

In der Forschung werden üblicherweise noch Kontextfaktoren und andere Variablen in ihrem Einfluss auf die interessierenden Zusammenhänge geprüft. Besonders prominent und für die HR-Praxis interessant zeigte sich in diesem Fall: In kleinen Unternehmen sind die negativen Auswirkungen von AM auf das Wohlbefinden am stärksten. In großen Unternehmen gibt es mehr Maßnahmen zur Unterstützung der Mitarbeitenden, weshalb die negativen Effekte dort abgeschwächt sind.

Drei Beiträge aus der Forschung, die zusammengefasst zeigen: HR muss hier mit wachem Blick sicherstellen, dass bei nötigem Fortschritt durch Digitalisierung die Psyche der Belegschaft keinen Schaden nimmt. Möglichkeiten hat HR – Zeitdruck, sie zu ergreifen, ebenso.

HR als Gestalterin algorithmischer Managementsysteme

HR-Abteilungen haben eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung von algorithmischen Managementsystemen, die sowohl effizient als auch fair sind. Die folgenden Strategien können dabei helfen, die psychische Gesundheit der Belegschaft zu schützen:

Autonomie erhalten durch hybride Entscheidungsmodelle: Ein rein algorithmisches Management ist oft problematisch. HR-Professionals sollten sicherstellen, dass Mitarbeitende in wichtige Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Dies kann durch hybride Systeme geschehen, in denen Algorithmen als Unterstützungstools fungieren, die finale Entscheidung jedoch durch eine Führungskraft getroffen wird.

Transparenz erhöhen mit erklärbaren Algorithmen: Mitarbeitende müssen nachvollziehen können, wie algorithmische Entscheidungen zustande kommen. Organisationen sollten daher klare und verständliche Richtlinien zur Funktionsweise von Algorithmen erstellen, Mitarbeitenden Zugang zu ihren Leistungsbewertungen und Entscheidungsparametern geben sowie regelmäßige Schulungen zur Nutzung der Systeme anbieten.

Überwachung mit Augenmaß durch Datenschutz und Fairness: Permanente Kontrolle durch algorithmische Systeme kann toxisch wirken. Daher sollten Organisationen Monitoring-Maßnahmen auf das notwendige Minimum beschränken, klare Datenschutzrichtlinien etablieren, um das Vertrauen der Belegschaft zu sichern sowie Feedback-Mechanismen implementieren, über die Beschäftigte ungerecht empfundene Bewertungen anfechten können.

Soziale Unterstützung stärken: Gerade in stark automatisierten Arbeitsfeldern ist es wichtig, alternative soziale Unterstützungsstrukturen zu schaffen. HR kann hierzu beitragen, indem regelmäßige Team-Meetings oder virtuelle Check-ins eingeführt werden, Mentoring-Programme bereitgestellt werden, um persönliche Betreuung sicherzustellen und – was nicht vergessen werden sollte – Führungskräfte darin geschult werden, empathisch mit den Herausforderungen algorithmischer Steuerung umzugehen.

KI als Unterstützer für psychische Gesundheit nutzen: Algorithmisches Management beruht oft auf KI und diese wird noch immer kritisch gesehen. Derartige Systeme können jedoch auch aktiv genutzt werden, um die psychische Gesundheit der Beschäftigten zu fördern. Beispielsweise: Digitale Coaching- und Beratungssysteme, das heißt KI-gestützte Chatbots oder Apps, die niedrigschwellige psychologische Unterstützung bieten. Zusätzlich möglich: präventive Stressanalyse über KI-gestützte Frühwarnsysteme, die Anzeichen von Burnout erkennen und präventive Maßnahmen empfehlen.

Gerechte Vergütungs- und Bewertungsmodelle: Leistungsbewertung durch Algorithmen darf nicht nur auf Effizienz basieren. Es müssen Kriterien wie Fairness, individuelle Arbeitsbedingungen und Teamleistung berücksichtigt werden. Organisationen sollten Algorithmen regelmäßig auf Diskriminierungsfreiheit überprüfen, die Beteiligung der Belegschaft in Vergütungsfragen stärken und Incentive-Systeme entwickeln, die nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Aspekte der Arbeit berücksichtigen.

Algorithmus und Gesundheit sind untrennbar

Algorithmisches Management ist gekommen, um zu bleiben. Richtig eingesetzt, kann es Prozesse optimieren und zur Entlastung von Beschäftigten beitragen. Doch ohne eine bewusste Gestaltung kann sich AM in erheblichem Maß negativ auf die psychische Gesundheit auswirken.

HR-Professionals und Top-Management müssen sicherstellen, dass die Einführung algorithmischer Systeme stets mit den Grundsätzen fairer, transparenter und gesundheitsförderlicher Arbeitsgestaltung einhergeht. Entscheidend ist, dass Algorithmen den Menschen unterstützen – und nicht umgekehrt. Mit gezielten Maßnahmen wie hybriden Entscheidungsmodellen, erklärbarer KI, Datenschutzrichtlinien und sozialen Unterstützungsangeboten kann HR einen entscheidenden Beitrag dazu leisten. Nur so lassen sich die Vorteile von AM nutzen, ohne die psychische Gesundheit der Beschäftigten zu gefährden.

Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin 7/2025. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der Personalmagazin-App.


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